Handschuhe, Schneeflocken

Schneegestöber, verschärfte Bedingungen, wenn auch nicht so schlimm wie bei anderer Gelegenheit. »Im vergangenen Jahr habe ich mit Terje in Norwegen gespielt«, meint der schwedische Bassist Anders Jormin. »Minus 28 Grad. Einen Moment habe ich nicht aufgepasst und die Hand für zehn Sekunden am Griffbrett gelassen. Dabei sind die Finger angefroren. Das ist zwar wieder geheilt, aber der Körper erinnert sich an solche Erlebnisse. Wenn es dann beim nächsten Mal kalt ist, passiert so etwas viel schneller. Ich sollte eigentlich mit Handschuhen spielen.« Überhaupt ist es erstaunlich, dass Jormin für die Auftritte mit seinem norwegischen Extremmusikerkollegen auf sein angestammtes Instrument verzichtet. Schließlich wird der langjährige Stammbassist der Bobo Stenson Trios, den gerne auch Koryphäen wie Charles Lloyd oder Dino Saluzzi in ihre Projekte laden, zu den Meistern der klanglichen Feindifferenzierung, dessen voller, ausgreifender Ton zum Markenzeichen geworden ist.

Aber letztlich geht es genau um dieses Jonglieren mit Farben, die sich Saiten entlocken lassen. Denn das Eisinstrument, das Eric Mutel und sein Team für Jormin gebaut haben, reagiert so grundlegend anders als das Pendant aus Holz, so dass gerade in diesem Wechselspiel von Natur und Elektronik neue, ungewohnte Soundsphären entstehen. Im Fall der Ice Music gehört dazu auch der Licht- und Klangdesigner Asle Karstad, der den vergänglichen Instrumenten durch seinen präzisen Einsatz von elektronischen Erweiterungen zusätzliche Räume erschließt. Und so macht sich Anders Jormin gerne auf den Weg, um auf dem Dach von Werk 5 über das Wochenende verteilt Konzerte zu spielen. Das nächste, nach der Familienrunde am Nachmittag, heute Abend. Wenn es sein muss, dann zieht er eben Handschuhe an, und lässt sich vom Miteinander von Klang und Licht, Flocken und Flow der Musik treiben.

 

Text und Foto (Anders Jormin bem Ausprobieren seines Instruments): Ralf Dombrowski

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Kettensägen, Bügeleisen

Seit Tagen parkt ein Kühllaster vor der Tür. Auf der Rampe vor dem Werk 3 und auf dem Dach von Werk 5 sägen, schnitzen, modellieren ebenfalls seit Mitte der Woche mehrere Künstler und der Eismusiker selbst, um zum Festivalstart alles parat zu haben. »Manches kann ich aus Norwegen mitnehmen«, meint Terje Isungset, unbeeindruckt von der Kälte und mit einem Schmunzeln im Gesicht. »Aber viele Instrumente bauen wir vor Ort. Und daher bin ich immer sehr an lokalem Eis interessiert, denn künstliches Eis klingt nicht. Der Jahrgang 2013 zum Beispiel war ziemlich gut, damit kann ich viel machen«. Wirkt skurril, aber Terje Isungset ist ein Pionier der Nische, der weiß, was er macht. Seit rund zwei Jahrzehnten musiziert er mit der Kälte und konstruiert in diesem Fall einen Eis-Kontrabass ebenso wie verschiedene Hörner, Trompeten, Schlagwerke. Das ist spektakulär, nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Organisatoren.

»Wir sind uns durchaus seltsam vorgekommen«, erinnert sich Martina Taubenberger, die künstlerische Leiterin der whiteBOX, die sich das Out Of The Box Festival ausgedacht hat. »Als wir mit unserer Bestellliste von 6 Tonnen Eis, 50 Metern massiver PVC-Plane, 3 Kettensägen und 2 Bügeleisen ankamen, zuzüglich 9.000 Liter Wasser für das Projekt Aquasonic, wirkte das eher wie der Auftakt zu einem Kettensägenmassaker, als zu einem Festival.« Aber inzwischen ist das meiste für das Wochenende mit der Eismusik verbaut und der Adrenalinpegel vor dem Festivalstart kann sich ein klein wenig senken. Die Zulieferer haben es durch die Schneemassen geschafft, die Künstler sind angekommen. An den letzten Verbindungen der Licht- und Soundtechnik wird geschraubt und der Eisbildhauer Eric Mutel hat seine Stelen um das Konzertgelände auf dem Dach von Werk 5 herum aufgebaut. Das Wetter ist gnädig, schickt keinen Fön ins Land und verspricht stattdessen stilechten Schneefall. Out Of The Box kann beginnen und wer zuhören, zusehen will, sollte ich warm anziehen.

Text und Bild (Martina Taubenberger, Terje Isungset): Ralf Dombrowski

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Ganz weit draußen

Irrwitz wagen. Eigentlich ist das als Maxime selbstverständlich, wenn man etwas veranstalten will, was über die Buchung von Tourneekünstlern oder auch die Inszenierung von Naheliegendem hinausgeht. Trotzdem ist inhaltliches Risiko im nicht subventionierten Kulturbetrieb selten. Das hat häufig finanzielle Gründe, aber manchmal fehlen auch die Visionen. Und das wiederum ist Martina Taubenberger ein Rätsel. Denn überall warten Ideen auf Entdeckung und Umsetzung. Seit einem Jahrzehnt ist die promovierte Kulturmanagerin auf vielen Baustellen unterwegs, berät Unternehmen, Städte und Gemeinden, konzipiert Festivals, coacht und inszeniert, kommuniziert, vernetzt, synergiert.

Als im Sommer 2016 die whiteBOX im Münchner Werksviertel als offener Kulturraum an den Start ging, übernahm sie die künstlerische Gesamtleitung und bringt seitdem eine fulminante Mischung aus Steetart, Foto- und Lichtkunst, Ausstellungen, Education-Projekten, Klang- und Körperkunst, Performance und Nachhaltigkeit in die Stadt. Es ist ein dickes Paket der Wagnisse, jedesmal ein Abenteuer für die whiteBOX selbst und ihr Publikum. Aber die Projekte vom Street Dance Festival und dem Jugendorchesterfestival »Auftakt« über die Interkulturelle Musikperformance »I Exist – nach Rajasthan« oder auch Aline Brugels Fotoplakataktion »Corps In Situ In City« bis hin zum »Graffitimuseum – Inventarium« oder auch dem Kompositionsauftrag »Das Leuchtturmprojekt (Epilog im Himmel)« bewähren sich und haben aus der whiteBOX in rasanter Geschwindigkeit einen zentralen Ort der Kreativkultur in München gemacht.

Und sie bestärken Martina Taubenberger und ihr Team, noch einen Schritt weiter zu gehen, wie mit dem Festival »Out Of The Box«. Als Thema über den Veranstaltungen im Januar steht »Klingende Naturgewalten« und da wiederum ist Wasser in seinen unterschiedlichen Aggregats- und Schwingungszuständen das Zentrum. Den Ausgangspunkt bildet Terje Isungset. In den Achtzigern trommelte der norwegische Perkussionist in verschiedenen Jazzbands, war aber nicht glücklich mit den Möglichkeiten des Ausdrucks, die sich ihm boten. Für ihn war alles Klang, nicht nur das Set, das auf der Bühne stand, und so begann er, Naturmaterialien für seine Sounds zu verwenden. Isungset trommelte auf Holz, Fels und entdeckte zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts das Eis für sich als Klangkörper. Zunächst nur für das Winterfestival 1999 in Lillehammer als Projekt beauftragt, entwickelte der vergängliche Werkstoff für ihn eine enorme akustische Faszination. Erste Aufnahmen entstanden, bald darauf rief er 2006 in Geilo das erste Eismusik-Festival ins Leben.

Seitdem tourt er mit seinen selbst geschnitzten und geformten Instrumenten durch die Welt, als Musiker, aber auch als Botschafter für mehr Sorgfalt im Umgang mit den natürlichen Ressourcen dieser Erde. Im Rahmen von „Out Of The Box“ wird er am 11., 12. und 13.Januar jeweils um 20 Uhr und zusätzlich für Kinder und Familien (12.01., 15 Uhr) open air auf dem Dach des Gebäudes (Hoch5) Konzerte geben, unterstützt von grandiosen KollegInnen wie der Sängerin Maria Skranes, dem Trompeter Arve Henriksen, dem Bassisten Anders Jormin und dem Gesangensemble Trio Mediaeval. Neben den Eis-Instrumenten entsteht auf dem Dach außerdem ein vergänglicher Skulpturenpark des französisch-schweizerischen Fotografen und bildenden Künstlers Eric Mutel, der das Dachgeschoss des Hoch5 mit zahlreichen Stelen ausstatten wird, die nach den jeweiligen Konzerten eingehend besichtigt werden können.

Den zweiten Teil des Festival bestreiten Musiker aus Dänemark. Sie teilen Isungsets Begeisterung für Wasser, jedoch auf andere Weise. Denn das Ensemble »AquaSonic« spielt Musik unter Wasser. Dafür wurden in Zusammenarbeit mit Tiefseetauchern, Instrumentenbauern und Forschern eigens Instrumente entwickelt, die sie in verschiedenen Tanks in der White Box präsentieren und spielen werden. Drei Abendkonzerte (25. / 26. / 27.01., 20 Uhr) und eine Matinee (27.01., 11 Uhr) sind geplant und das Hörerlebnis ist so ungewöhnlich, dass sich seit der Premiere 2016 bislang kaum jemand der Ausstrahlung von »AquaSonic« entziehen konnte.

Teil drei von »Out Of The Box« bezieht sich auf das Verhältnis von Klang im Raum. Über den Konzerten und Performances vom 31.Januar bis zum 2.Februar steht das Thema »Digitale Poesie« und ein sehr unterschiedliches Team von KünstlerInnen wird diese Relationen aus verschiedenen Perspektiven einkreisen. Der Klarinettist Claudio Puntin und die Videokünstlerin Alba G. Corral loten zu Beginn (31.01., 20 Uhr) die Beziehungsgeflechte von Improvisation, Sound, Licht und Bild aus. Am folgenden Abend stellt der Lichtkünstler Kurt Laurenz Theinert sein »Visual Piano« (01.02., 20 Uhr) vor, eine Verknüpfung von Rauminstallation und Soundentfaltung, gefolgt und abgerundet von Ralf Schmids »Pyanook« (02.02., 20 Uhr), einer interaktiven Klangvideoperformance.

Neben diesen ungewöhnlichen Klangprojekten hat »Out Of The Box« auch sehr haptische und physische Momenten zu bieten. Denn am 19.Januar wird nebenan im Technikum gefeiert, die »Out Of The Box Dance Night« mit den drei in der heimischen Szene sehr angesagten Projekten Organ Explosion, Ark Noir und Slatec. Mit der „Pastorale re/visited“ (20.01., 15 Uhr) wird außerdem das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks als eigenes Projekt zusammen mit Komponisten, einer Videokünstlerin und Schülern Beethovens 6.Symphonie mit den Themen Natur, Klima und Veränderung verbinden. Und die meisten der Klangkünstler laden außerdem zu Kinderkonzerten ein, schließlich gibt es genug Außergewöhnliches zu entdecken. Irrwitz, Risiko wagen. Für die whiteBOX und das Taubenberger Team ist »Out Of The Box« das bislang verrückteste Projekt. Aber es weist über die Normalität hinaus. Und kalt genug für einen fulminanten Start soll es ja schon mal bleiben.

Text: Ralf Dombrowski

Der Text erschien ursprünglich in der Kulturzeitung Münchner Feuilleton unter Münchner Feuilleton

Festival-Website: Out Of The Box