Einsicht mit Aussicht

Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen. An sich – und das betonen sowohl Nicolas Stoll vom Alfred Wegener Institut und Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, wie auch Ludwig Braun, ehemals Leiter der Kommission für Glaziologie an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München – könnte er sich die Kugel geben. Denn was sich etwa in Grönland an hausgemachten Veränderungen der Eiskappen beobachten lässt, aber eben auch bei Alpengletschern, die nicht gar so weit entfernt vor sich hin schwitzen, deutet unmissverständlich darauf hin, dass der Kipp-Punkt der Entwicklung bald erreicht sein wird, an dem globale Klimaphänomene unumkehrbar werden. Die Risikoabschätzung verlässt in diesem Fall selbst die Wissenschaft, denn es kommen bei derartigen globalen Prozessen so viele Faktoren zusammen, dass sich eine Prognose nicht mehr treffen lässt. Außer der Vorhersage, dass es heftig wird.

Am Ende des Klimapodiums, zu dem im Rahmen des BOXenstopps quasi zur reflektorischen Ergänzung des Eismusikkonzerts von Terje Isungset im Hoch5 des Werksviertels geladen wurde, blieb daher ein rätselhaft ambivalentes Gefühl im Raum. Die Experten mündeten in ihren Beiträgen entweder in hoffnungsvoll irrationalen Optimismus oder in die Variante einer auf Einsicht von Nachhaltigkeit zielenden Spiritualität. Der Künstler wiederum sah sich als Botschafter einer Natur, derer innere Schönheit er geliehenermaßen und mit dem Signum der Vergänglichkeit lustvoll mit Bedacht präsentiert. Für die künstlerische Leiterin des Festival Out Of The Box und Moderatorin der Runde Martina Taubenberger blieb daher die Aussicht als Conclusio, dass eben gerade mit Veranstaltungen, wie sie sie mit der whiteBOX kuratiert, der Mensch über das Medium der Kultur zu Gedankengängen angeregt wird, die über ein betroffenes Kopfnicken hinausreichen. Und das wäre immerhin schon ein großer Erfolg.

Text und Bild: Ralf Dombrowski

Link: http://www.outofthebox.art/

Natur, am Ende

Am Ende, meint Terje Isungset, könne er seine Instrumente trinken. Dann lächelt er dieses norwegische Lächeln, dem man nicht genau ansieht, wie sehr sich Charme, Ernst und Ironie untereinander die Waage halten. Jedenfalls setzt er während des Eröffnungskonzerts des Festivals Out Of The Box 2020 sein Ice Horn mehrfach ab, um sich das Wasser aus dem Gesicht zu wischen. Das gehört zum Konzept der Vergänglichkeit, der Nachhaltigkeit, das den eigentlichen Kern seiner Faszination für Instrumente aus Eis bildet. Sicher, da ist der Klang, ungewöhnlich, stellenweise erdenfern, auf dem Dach des Hoch5 von Alse Karstad in gewohnt perfekter Manier gerade richtig laut und räumlich transparent verstärkt. Da sind die Variationen mit Hörnen, einer Harfe, Kontrabass und verschiedenem Schlagwerk aus Eis, die durchaus überraschende Nuancen und Farben generieren.

Aber das ist nur die Oberfläche. Für Terje Isungset geht es letztlich ums Ganze, um die Natur als vielfältige Ressource für die Phantasie des Menschen und um den verantwortungsvollen, auch ehrfürchtigen Umgang damit. Sein Mittel ist die Eismusik, spektakulär genug, um Menschen aus den Sesseln zu heben und sie in Konzerte zu bewegen, eine Kunst, die sich eher mit Stimmungen und Schwebungen, mit kammermusikalischen Fächerungen beschäftigt, als mit Virtuosität zu protzen. Seine Botschaft ist die Achtsamkeit, weitab der Modetrends, das Bewusstsein, dass der Mensch nur mit sich im Reinen sein kann, wenn er es auch mit der Natur ist. Terje Isungset kommt dieser Idee als Künstler recht nahe. Er vermittelt sie über das Wochenende hinweg außerdem in Workshops und weiteren Konzerten. Es ist auch ein Grund, womöglich der eigentliche, weswegen er lächelt.

Text und Bild: Ralf Dombrowski

Link: http://www.outofthebox.art/

Ein wenig Österreich

Even Rygg macht nicht viele Worte. Der norwegische Bildhauer und Landschaftsbauer greift lieber zur Motorsäge und schneidet Blöcke aus dem Eis, bringt sie mit Handsägen und Messern in Form und testet ihre akustische Verwendbarkeit. Das macht er in seiner Heimat und zuweilen auch an anderen Orten wie dem Weissensee in Kärnten, der in diesem Jahr als Rohstoffquelle für die Instrumente der Ice Music dient. Nach der Vorbereitungsphase in der vergangenen Woche sind inzwischen alle brauchbaren Blöcke nach München in Richtung Werksviertel gebracht worden und wurden während der vergangenen Tage auf verschiedenen Flächen rund um die whiteBOX in der Öffentlichkeit bearbeitet, präpariert, feinjustiert. Denn es ist Zeit für Out Of The Box 2020 und die Fortsetzung einer Kooperation, die bereits im vergangenen Jahr zu erstaunlichen, ungewöhnlichen Konzerten geführt hatte.

Und diesmal geht der Master Mind der Ice Music, der Percussionist Terje Isungset, noch ein paar Schritte weiter und konstruiert mit Hilfe von Spezialisten wie Even Rygg über Blas-, Perkussionsinstrumente und einen Kontrabass hinaus auch sensible Klangerzeuger wie eine Harfe aus Eis, die unter anderem bei der Eröffnung des Festivals am 10.Januar zum Einsatz kommt. Wieder mit dabei ist ebenfalls der Schweizer Bildhauer Eric Mutel, der sich aus bildnerischer Perspektive mit dem Phänomen des vergänglichen Materials und dessen Implikaturen beschäftigt. Überhaupt werden einigen Ideen von 2019 aufgenommen und unter dem Geschichtspunkt nachhaltiger Zusammenarbeit von Festival und Künstlern neu interpretiert und modifiziert. Denn auch darum geht es bei zeitgemäßer Konzeptarbeit. Ein Projekt wird umso diskursiver und womöglich stimmiger, wenn es sich nicht nur als fertiges Produkt, sondern als Arbeitsprozess präsentiert, für den beispielsweise Eis aus einem Kärntner See geschnitten wird.

Text und Bild: Ralf Dombrowski

Link: http://outofthebox.art/programm/

Mythen, Optionen

Beherzt greift Eric Mutel zur Motorsäge und schneidet die Stelen seiner Eis-Foto-Installation in Stücke. Ein Künstler ohne sentimentale Züge, aus Prinzip. Denn Vergänglichkeit ist ein Grundimpuls seines Konzepts: »Traurig bin ich nicht. Es gehört zu meiner Arbeit, dass die Dinge sich verändern. Wenn sie jetzt wegschmelzen und verschwinden, ist das ein Teil, das zu der Installation gehört. Deshalb fasziniert mich auch Eis als Werkstoff. Es ist hart und weich, ein widersprüchliches Material, dem man die Zeit ansieht. Ich experimentiere seit zwanzig Jahren damit, erst in kleinem Rahmen, dann immer größer. Ich arbeite auch mit anderen Materialien, meistens mit großen Installationen. Es gibt außerdem Projekte, die gar nichts mit Eis oder Ähnlichem zu tun haben, Videos zum Beispiel. Oder ich konzipiere Installationen mit Holz oder Stein. Wichtig sind mir jedoch immer der Kontrast und die Balance des Materials, wie es mit- und gegeneinander wirkt.«

Da passt es, am Ende die über Tage sorgsam hergestellten Fotostelen aus Eis, in deren Innerem eingearbeitete Schwarz-Weiss-Porträts bereits vom Schmelzprozess beeinflusst ihre Form verlieren, auch wieder einzureißen. Der Künstler interagiert mit seinem Werk und sorgt dafür, dass es nur noch in der Imagination besteht. Es schafft Mythen, Optionen, Denkanstöße. Und natürlich hat er auch ein wenig Spaß daran, das zu relativieren, was vorher Bedeutung suggerierte. Luigi Fontana ging mit dem Schwert auf die Leinwand los, Banksy ließ sein Bild durch den Schredder laufen, Eric Mutel dekonstruiert Kunst, indem er ihr ihre Endlichkeit gleich ins Stammbuch schreibt und noch ein wenig nachhilft. Damit ist er konzeptuell auch eine Fortsetzung der Ice Music auf anderer Ebene. Klänge aus Eis auf schmelzenden Instrumenten gespielt, die sich aufgrund der steten Veränderung des Materials nicht reproduzieren lassen. Bilder aus Eis, die ebenso unwiderruflich sich auflösen. Am Ende bleibt die Idee. Schick!

 

Text und Foto (Eric Mutel in Aktion): Ralf Dombrowski

Festival: Out Of The Box

Facebook: Out Of The Box auf Facebook

Instagram: Out Of The Box auf Instagram

Naturgewalten, Kunsterleben

Eis hat seine Grenzen. Es ist nicht nur so vergänglich, dass die Techniker nach dem Konzert die Klangskulpturen und Instrumente in Folie verpacken und flugs in den Kühltrailer verfrachten. Es ermöglicht auch nur die Klänge, die ihm strukturgegeben bereits innewohnen. »Versteh mich nicht falsch,« erklärt der Trompeter und Eishornspieler Arve Henriksen. »Aber die Eismusik, die wir machen, ist eigentlich eher eine Installation. Denn aus der Perspektive des Musiker bieten beispielsweise die Eishörner wenig Variationsmöglichkeiten. Man muss mit der Stimmung arbeiten, die sie haben, es gibt keine Ventile, insofern hat das Ganze eher etwas Statisches. Aber das ist auf der anderen Seite auch der Reiz daran. Denn es geht um Atmosphären, um die Klangentfaltung, weniger um die Sololeistungen eines Einzelnen.«

Wie das klingt, konnte man gestern schon im mehrstöckigen Konzertatelier des München Hoch5 erleben. Wegen starker Böen in Windeseile von der Dachterrasse in den Innenraum umgezogen, entwickelte die Musik eine andere Faszination als am Vorabend, als der Auftakt des Out Of The Box Festivals im Schneegestöber unter freiem Himmel stattfand. Das von den norwegischen Weiten in die Stadt transferierte optisch-akustische Naturerleben verwandelte sich in eine klingende Meditation mit ausgeprägtem Kunstcharakter. Eigentlich etwas völlig anderes und doch klar verwandt mit der Wildheit des Eröffnungskonzerts. Arve Henriksen hatte außerdem beschlossen, trotz Eis und Elektronik auch seine Trompete einzusetzen. Und das wiederum passte auf seine Art perfekt zum Gedanken einer fluoreszieren, schillernden Installation. Denn der Norweger experimentiert selbst seit langem mit der Ausweitung der Soundgrenzen seines Instruments. Und sein gehauchter, manchmal wie eine Shakuhatchi klingender, dezent eingesetzter Trompetenton hätte auch von einem anderen Stern kommen können.

 

Text und Foto (Arve Henriksen mit Eishorn beim In-Door-Konzert): Ralf Dombrowski

Festival: Out Of The Box

Facebook: Out Of The Box auf Facebook

Instagram: Out Of The Box auf Instagram

Handschuhe, Schneeflocken

Schneegestöber, verschärfte Bedingungen, wenn auch nicht so schlimm wie bei anderer Gelegenheit. »Im vergangenen Jahr habe ich mit Terje in Norwegen gespielt«, meint der schwedische Bassist Anders Jormin. »Minus 28 Grad. Einen Moment habe ich nicht aufgepasst und die Hand für zehn Sekunden am Griffbrett gelassen. Dabei sind die Finger angefroren. Das ist zwar wieder geheilt, aber der Körper erinnert sich an solche Erlebnisse. Wenn es dann beim nächsten Mal kalt ist, passiert so etwas viel schneller. Ich sollte eigentlich mit Handschuhen spielen.« Überhaupt ist es erstaunlich, dass Jormin für die Auftritte mit seinem norwegischen Extremmusikerkollegen auf sein angestammtes Instrument verzichtet. Schließlich wird der langjährige Stammbassist der Bobo Stenson Trios, den gerne auch Koryphäen wie Charles Lloyd oder Dino Saluzzi in ihre Projekte laden, zu den Meistern der klanglichen Feindifferenzierung, dessen voller, ausgreifender Ton zum Markenzeichen geworden ist.

Aber letztlich geht es genau um dieses Jonglieren mit Farben, die sich Saiten entlocken lassen. Denn das Eisinstrument, das Eric Mutel und sein Team für Jormin gebaut haben, reagiert so grundlegend anders als das Pendant aus Holz, so dass gerade in diesem Wechselspiel von Natur und Elektronik neue, ungewohnte Soundsphären entstehen. Im Fall der Ice Music gehört dazu auch der Licht- und Klangdesigner Asle Karstad, der den vergänglichen Instrumenten durch seinen präzisen Einsatz von elektronischen Erweiterungen zusätzliche Räume erschließt. Und so macht sich Anders Jormin gerne auf den Weg, um auf dem Dach von Werk 5 über das Wochenende verteilt Konzerte zu spielen. Das nächste, nach der Familienrunde am Nachmittag, heute Abend. Wenn es sein muss, dann zieht er eben Handschuhe an, und lässt sich vom Miteinander von Klang und Licht, Flocken und Flow der Musik treiben.

 

Text und Foto (Anders Jormin bem Ausprobieren seines Instruments): Ralf Dombrowski

Festival: Out Of The Box

Facebook: Out Of The Box auf Facebook

Instagram: Out Of The Box auf Instagram

Kettensägen, Bügeleisen

Seit Tagen parkt ein Kühllaster vor der Tür. Auf der Rampe vor dem Werk 3 und auf dem Dach von Werk 5 sägen, schnitzen, modellieren ebenfalls seit Mitte der Woche mehrere Künstler und der Eismusiker selbst, um zum Festivalstart alles parat zu haben. »Manches kann ich aus Norwegen mitnehmen«, meint Terje Isungset, unbeeindruckt von der Kälte und mit einem Schmunzeln im Gesicht. »Aber viele Instrumente bauen wir vor Ort. Und daher bin ich immer sehr an lokalem Eis interessiert, denn künstliches Eis klingt nicht. Der Jahrgang 2013 zum Beispiel war ziemlich gut, damit kann ich viel machen«. Wirkt skurril, aber Terje Isungset ist ein Pionier der Nische, der weiß, was er macht. Seit rund zwei Jahrzehnten musiziert er mit der Kälte und konstruiert in diesem Fall einen Eis-Kontrabass ebenso wie verschiedene Hörner, Trompeten, Schlagwerke. Das ist spektakulär, nicht nur für das Publikum, sondern auch für die Organisatoren.

»Wir sind uns durchaus seltsam vorgekommen«, erinnert sich Martina Taubenberger, die künstlerische Leiterin der whiteBOX, die sich das Out Of The Box Festival ausgedacht hat. »Als wir mit unserer Bestellliste von 6 Tonnen Eis, 50 Metern massiver PVC-Plane, 3 Kettensägen und 2 Bügeleisen ankamen, zuzüglich 9.000 Liter Wasser für das Projekt Aquasonic, wirkte das eher wie der Auftakt zu einem Kettensägenmassaker, als zu einem Festival.« Aber inzwischen ist das meiste für das Wochenende mit der Eismusik verbaut und der Adrenalinpegel vor dem Festivalstart kann sich ein klein wenig senken. Die Zulieferer haben es durch die Schneemassen geschafft, die Künstler sind angekommen. An den letzten Verbindungen der Licht- und Soundtechnik wird geschraubt und der Eisbildhauer Eric Mutel hat seine Stelen um das Konzertgelände auf dem Dach von Werk 5 herum aufgebaut. Das Wetter ist gnädig, schickt keinen Fön ins Land und verspricht stattdessen stilechten Schneefall. Out Of The Box kann beginnen und wer zuhören, zusehen will, sollte ich warm anziehen.

Text und Bild (Martina Taubenberger, Terje Isungset): Ralf Dombrowski

Festival: Out Of The Box

Facebook: Out Of The Box auf Facebook

Instagram: Out Of The Box auf Instagram